Das Ökumenische Gemeindezentrum Hinterweil

Am 3. Oktober 1993 weihte Bischof Walter Kasper die St. Franziskus-Kirche und Prälatin Dorothea Margenfeld nahm die Einweihung der Nikodemuskirche vor. Beide Kirchen zusammen firmieren seitdem als „Ökumenisches Gemeindezentrum (ÖGZ) im Hinterweil“. Es ist das einzige ökumenische Gemeindezentrum in Sindelfingen, aber beileibe nicht der einzige Platz in Sindelfingen, wo Ökumene gelebt wird. Da gibt es eine lange Tradition: In der Viehweide hatte Pater Urs Siegrist die Auferstehungskirche für die evangelischen Christen geöffnet, die ihrerseits das Markuszentrum für die katholische Gemeinde öffnete. Pater Ludwig Zink arbeitete mit der Johanneskirchengemeinde zusammen und auf dem Goldberg kooperierten die Versöhnungskirchengemeinde und die von St. Maria.

Wie aber kam es zu einem Ökumenischen Gemeindezentrum? Sindelfingen war seit dem Anschluss an die Reformation unter Herzog Ulrich rein evangelisch. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es sechs Katholiken in der Stadt, aber durch die Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus meist katholischen Ländern stieg nicht nur die Einwohnerzahl Sindelfingens, sondern auch die Anzahl der Katholiken rasant an. 1952 wurde die Dreifaltigkeitskirche im Stadtzentrum gebaut. Immer mehr Stadtteile entstanden, und die Stadt sah jeweils einen Bauplatz für die beiden großen christlichen Konfessionen vor. So entstanden in rascher Folge die Christus- und die St. Joseph-Kirche in Rotbühl und Schleicher, das Markuszentrum und die Auferstehungskirche in der Viehweide, die Johannes- und die St. Paulus-Kirche in Eschenried und Eichholz, die Versöhnungs- und die St. Maria-Kirche auf dem Goldberg.

Als das Hinterweil Anfang der 70er Jahre entstand, waren auch dort Bauplätze für Kirchen vorgesehen, aber noch fehlte den Gemeinden die notwendige Gemeindegliederzahl und das Geld für einen Bau. So begann man mit Gottesdiensten im Musiksaal des bereits vorhandenen Schulgebäudes. Als 1977 in Stuttgart-Neugereut ein provisorisches Kirchengebäude zum Verkauf angeboten wurde, griff die katholische Kirche zu, investierte knapp 1 Million DM und 1980 wurde das Gebäude dem heiligen Franz von Assisi geweiht.

Eine Mitnutzung durch die evangelische Kirche war von Anfang an vorgesehen, und so trafen sich allsonntäglich zuerst die Katholiken zur Messe und dann die Protestanten zum Gottesdienst im Kirchenraum. Die Woche über trafen sich Frauenkreise, Krabbelgruppen, biblische Gesprächskreise u.a. – nicht selten in ökumenischer Zusammensetzung – in den Räumen des Provisoriums. Man lernte sich kennen und baute nach und nach das eine oder andere Vorurteil ab. Die gemeinsame Nutzung lief weitgehend reibungslos ab und schon bald bildete sich ein Kreis engagierter Personen aus beiden Konfessionen, der sich den Namen „Ökumenischer Kreis“ gab und der bis heute besteht.

Aber die Protestanten waren eben nur Gast in den Räumlichkeiten – und strebten nach etwas Eigenem. 1985 startete die evangelische Kirche den ersten Bauversuch, der allerdings an den hohen Grundstückspreisen scheiterte. Was also tun? Da auch die Katholiken nicht ewig in einem Provisorium bleiben wollten und man sich eh schon kannte, entstand die Idee zu etwas Gemeinsamem.

Der Teufel steckte aber, wie so oft, im Detail. 1987 schrieb man einen Architektenwettbewerb aus – mit der Stadt als drittem Bauherrn, die in dem Bau eine offene Jugendarbeit ansiedeln wollte. Im Ausschreibungstext stand der Passus, dass der Architekt einer Konfession angehören müsse, die an der ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen) beteiligt ist. Die Grünen und später auch die SPD wollten den Passus gestrichen haben und die Stadt zog sich schließlich aus dem Vorhaben zurück. Ich weiß nicht, ob der Passus gestrichen wurde, sondern nur, dass der junge Architekt Wolfgang Schwarz den Wettbewerb gewann und wegen des Wegfalls der offenen Jugendarbeit noch einmal umplanen musste. Es war nicht das letzte Mal.

Wer heute das ÖGZ betritt, sieht gleich nach dem Eingang auf der linken Seite eine Steinsäule mit dem Wort aus Epheser 4Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ – ein würdiges Wort für ein Ökumenisches Zentrum. Was er nicht sieht, ist die Tatsache, dass die Spitze des im Grundriss dreieckigen Steins eine Achse vorgibt, die eine vom Architekt zu planende Realteilung ermöglicht. Möglich, dass diese Vorgabe auf die Böblinger Diezenhalde zurückgeht. Dort war bereits ein ökumenisches Zentrum errichtet worden und es lief alles andere als gut. Glücklicherweise ist das inzwischen Geschichte und es ist zu hoffen, dass es auch im Hinterweil nie dazu kommt, wirklich eine Wand einziehen zu müssen.

Vor dem Hintergrund, dass Sindelfingen einst rein evangelisch war, ist es manchem hart aufgestoßen, dass der Kirchenraum von St. Franziskus für 250 Personen ausgelegt ist, der von Nikodemus nur für 70. Das hatte und hat aber auch seine Vorteile: Stark besuchte Gottesdienste, wie etwa an Heiligabend oder an Ostern, feierten die Protestanten in St. Franziskus, Bibelabende oder meditative Veranstaltungen hatten in Nikodemus den passenderen Rahmen – zumindest anfangs. Inzwischen reicht den Protestanten auch an Heiligabend der eigene Kirchenraum und den Katholiken ist nahegelegt worden, dass Nikodemus eigentlich nicht als Sakralraum taugt, weil der Altar bzw. Abendmahltisch nicht erhöht steht. So kommt manches wieder, was man schon für überwunden hielt.

Vorerst vorbei sind auch die Zeiten, wo im gemeinsamen Foyer regelmäßig Ausstellungen stattfanden oder Konzerte (z.B. von den „Bassgrummlern“ und von „Molto Amabile“), wo in Nikodemus die Gruppe Jontef ihre Zuhörer mit jiddischen Liedern in Bewegung brachte, wo Hildegard Plattner mit „Luther und Herr Käthe“ zu Gast war. Wenn der Kirchenraum zu klein wurde, öffnete man einfach die Faltwand zum Foyer! Vorbei ist auch die Zeit, wo alljährlich eine „Hinterweiler Hocketse“ veranstaltet wurde, organisiert vom Ökumenischen Kreis. Die Arbeitswelt hat sich so verändert und der Auflagen sind so viele geworden, dass es immer schwerer wurde, Menschen zu finden, die den enormen Vorbereitungsaufwand schultern konnten oder wollten.

Dafür ist Neues entstanden: Chöre wie „Vocussion“ oder „New Joyce“ bereichern z.B. einen Gottesdienst oder laden zu einem Konzert ein, zweimal monatlich wird unter dem Motto „Manna Manna“ zu einem gemeinsamen Mittagessen für alle eingeladen, einmal im Monat findet ein sehr gut besuchter Taizé-Gottesdienst statt, jeden Montag trifft sich eine Gruppe zu „Wandern und Radeln“ – einmal im Monat zu einem Vortrag. Seit einigen Jahren veranstaltet der Ökumenische Kreis auch am Bibelsonntag einen Ökumenischen Gottesdienst mit gemeinsamem, selbst gekochtem Mittagessen und direkt davor oder danach eine Bibelwoche.

Aktivitäten hängen auch mit den Hauptamtlichen zusammen. Auf katholischer Seite waren das zunächst einmal Salletiner am Ende ihres Berufslebens. Sie hatten allesamt die Weisheit und Gelassenheit des Alters und eine relative Unabhängigkeit gegenüber der Diozösanverwaltung. Sie waren jeweils für viele Jahre Ansprechpartner für die evangelische Seite. Den Anfang machte Pater Dr. Schweizer. Mit ihm waren Gottesdienste möglich, in denen Eucharistie und Abendmahl parallel gefeiert wurden – wenn auch in getrennten Reihen. Die Ökumene konnte sich entwickeln. Ihm folgte Pater Huwyler, der zwar die gemeinsame Mahlfeier nicht mittragen konnte oder wollte, der ansonsten aber die ökumenischen Bestrebungen an der Basis zumindest nicht behinderte. Die Sonntagsgottesdienste hielt allerdings häufig Pater Truffer, der theologisch ausgesprochen offen war. Dann versiegte der Quell der Salletiner und mit den Pfarrern Schumacher und Schulz änderte sich Vieles: Die Riege der älteren katholischen Frauen verschwand aus dem gemeinsamen Abendgebet in Nikodemus, die beiden Pfarrer zogen sich weitgehend aus dem Ökumenischen Kreis zurück, das traditionelle ökumenische Gemeindefest im Herbst musste dem Patrozinium weichen, immer wieder fanden offenbar Invektiven gegen die Protestanten Eingang in die Sonntagspredigten.

Auf evangelischer Seite war der Anfang schwierig, weil die Gemeindegliederzahl noch nicht ausreichte für eine eigenständige Pfarrstelle. So wechselten in relativ kurzen Abständen Pfarrverweser/innen einander ab. Den Anfang machte Linde Zeeb; ihr folgten Christine Knoll, Jutta Bühler, Jürgen Kaiser und Hans-Martin Walker. Sie alle taten, was sie konnten, um den ökumenischen Faden weiterzuspinnen. Mit Dr. Wolfgang Baur kam 1989 der erste eigenständige Pfarrer, der nicht nur den Bau des ÖGZ begleitete, sondern mit voller Kraft dafür sorgte, dass es auch mit Leben erfüllt wurde.

Auf ihn folgte 1997 Wolfgang Ristok, der mehr Ideen für ein ökumenisches Miteinander entwickelte, als sich umsetzen ließen. Die von ihm mitorgansierte „Hinterweiler Hocketse“ ist, wie gesagt, inzwischen verschwunden, das freitägliche Abendgebet auch, aber „Manna Manna“ und die Andacht nach der Weise von Taizé stehen nach wie vor auf festen Beinen. Nach Herrn Ristoks Weggang im Jahr 2012 sollte die Stelle auf 50 Prozent reduziert werden und es vergingen zwei Jahre, bis man das umsetzen konnte. Von 2014 bis 2018 übernahm Pfarrerin Meike Huber-Bergmann die Stelle.

2024 soll die Pfarrstelle an der Nikodemuskirche ganz wegfallen, sie ist aber bis dahin nicht verwaist: Das Pfarrerehepaar Moritz Twele und Friederike Strauß hat seit April 2018 die Vertretung übernommen. Sie sind mit dem größeren Teil ihres Dienstauftrages an der Christuskirche auf der Böblinger Diezenhalde angestellt, wo es ebenfalls ein ökumenisches Gemeindezentrum gibt, und wo das ökumenische Miteinander blüht, wie man hört. Ein sehr gutes Zeichen!

Reinhard Holländer